Bei vielen ist der unangefochtene König der musikalischen Kleinkindunterhaltung Rolf Zuckowski. Und warum auch nicht? Die Lieder sind simpel, einfach und gehen ins Ohr, selbst bei Zweijährigen. Nackidei, Nackidei, alle sind heut Nackidei… Ich fand das schon als kleines Kind verdächtig. Da schien mir immer mehr im Busch zu sein. Eventuell ein Ü40er mit Akustikgitarre und stumpfen Texten.
Unter anderem deshalb präferierten meine Eltern Frederik Vahle. Der war immer deutlich anarchischer und seine Charaktere auch weitaus intelligenter, beides Eigenschaften, die meine Eltern in Teilen zu schätzen wussten, sowohl bei mir als auch bei Frederik.
Das hat seine Folgen. Zum Beispiel seine Anne bläst in meinem Kopf jedes Mal Trompete auf der Kaffeekanne, wenn jemand eine überkomplizierte Wegbeschreibung abgibt. Was übrigens mein Vater mit großer Vorliebe tat. „Und wenn du dann die Hauptstraße langfährst, am Haus von Katrin vorbei, dann kommt doch links die Tankstelle, ne? An der musst du vorbei, dann um die Kurve, da kommt dann die Ampel. Und nach der Kreuzung kommt dann links so eine kleine Straße, an einem grünen Haus. Weißt du welche? Gut. Da fährst du nicht lang.“ Das klingt doch schon ganz nach geradeaus, übers Haus, dreimal rum und hoch hinaus, oder?
Nach Anne Kaffeekanne kam eine kurze Phase, die aus irgendeinem unerfindlichen Grund in einer gruseligen Mischung aus den Lollipops, Loona und Schlagern von Juliane Werding bestand.
Noch heute kann ich altklug „Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst, ein Mädchen kann das nicht.“ mit in die Hüfte gestemmter Hand und frech gezücktem Skatblatt skandieren.
Nur musste ich einerseits bei der Recherche dieses Textes feststellen, dass dieses Lied ganze 16 Jahre älter als ich ist und andererseits von Gunther Gabriel geschrieben wurde, den ich eigentlich nur als gut gebutterten Kartoffel-Cash für Arme wahrgenommen habe und ihm damit sicherlich Unrecht tue. Außerdem kann ich nicht mal Skat spielen.
Und zu allem Überfluss, und ich weiß nicht, wie das passieren konnte, musste ich diese musikalischen Fehltritte fortan auch geflissentlich verheimlichen, denn die Pubertät traf mich hart. Zuerst mit Aggressionen und Rammstein. Gott, war ich böse! Ich war der Schrecken, der die Nacht durchflattert, wenn ich meinen 128 Megabyte-MP3-Player auspackte, mir Papas altersschwachen On-Ear-Kopfhörer, kombiniert mit drei Adaptersteckern, verflucht viel Isolierband und sehr viel Leidenswillen für das Image aufsetzte und mich in den Texten versenkte. Wollt ihr das Bett in Flammen sehen?! Ja, verdammt, denn ich war so verdammt unangepasst und hatte enorm viel Ahnung von brennenden Schlafmöbeln! Ich war böse! Und dreizehn.
Als alle dachten, ich hätte mit fünfzehn das schlimmste überstanden, holte die nahende Adoleszenz noch einmal weit aus und schlug noch einmal zu, mit Weltschmerz, HIM und zuviel Kajal. Meine Mutter betete, ausnahmsweise mal ganz dem mütterlichen Klischee folgend, dass das alles nur eine Phase sei. Beziehungsweise, dass vor allem ein paar der seltsamen Gestalten, die ich im Rahmen meiner Entdeckung der unfassbar reichhaltigen Gothic-Clubszene Braunschweigs (ein einziger Laden, ungefähr 55 Quadratmeter) bei mir zu Hause anschleppte, ebenfalls nur eine Phase durchlebten. Denn die unbestreitbaren Vorteile der Kleidungsauffrischung mittels Waschmaschine statt billigem Patchouli aus dem Afghanen-Laden mussten erst wieder neu entdeckt werden, so schien es.
Ich verrate nicht zuviel, wenn ich sage: Sie wurde enttäuscht. Und zwar patchouli-herbe. Aber meine Mutter wäre nicht diese, wenn sie nicht Kummer und Marotten in größerem Ausmaß gewöhnt wäre. Sie verlegte sich fortan darauf, einfach die vierfache Menge Abendessen zu bereiten und ein Schild an unsere Haustür zu hängen, auf dem „Herberge zur Heimat“ zu lesen war. Außerdem lebte sie damit, dass regelmäßig Menschen ein oder zwei Stufen oberhalb meiner Altersklasse in zweifelhafter Netz- und Lackbekleidung in unserem Flur rumlungerten und tatsächlich keinerlei sexuelle Beziehung mit mir pflegten, was alle Beteiligten zumindest angemessen überraschte.
Irgendwann musste ich allerdings feststellen, dass es sehr, sehr anstrengend ist, die ganze Zeit drauf bedacht zu sein, wie genau der eigene Musikgeschmack den eigenen Charakter nach außen hin repräsentieren kann. Die viel zu kleine Armeetasche mit den Patches wurde unpraktisch, der kompromisslos getragene Kajal ließ meine schwer kurzsichtigen Augen noch viel kleiner aussehen. Auch wurde es immer anstrengender, die plakativ auf den College-Block gekritzelten Songtexte so auf dem Schultisch zu positionieren, dass die Englisch-Lehrerin das Eddinggeschmiere nicht erst über Kopf enträtseln musste.
Man kann plötzlich wieder auf der Weihnachtsfeier mit den anderen Barbie Girl singen und dabei die Springerstiefel tragen, in denen bis vor kurzem nur Lordi gegrölt werden durfte.
Und ganz am Ende greift man sich eben doch wieder die Kaffeekanne, bläst ein bisschen Trompete und es geht, o Pardon, auf dem Besenstiel davon, geradeaus, übers Haus, dreimal rum und hoch hinaus.
(Lena Beule, ca. 2018)