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garnicht

„GARNICHT!“

Vor nicht allzu langer Zeit belauschte ich bei McDonalds – zu dem ich natürlich nur gehe, weil ja der Kaffee echt nicht schlecht ist und die Kekse ja so lecker und die Einrichtung vom McCafe ja auch ganz nett und man kann da ja auch so schön Kaffeeklatschen und überhaupt, so gaaaanz selten, so manchmal, da hat man ja auch Lust auf so einen Burger, das kann ja mal passieren, so nach dem Feiern, sonst natürlich nie! – ja, neulich belauschte ich bei McDonalds eine junge Mutter mit zwei Kindern.

Die Kinder waren zwei Jungs, aufgeweckte Kerlchen, der ältere ungefähr um die acht Jahre alt, der jüngere wird höchstens vier gewesen sein.
Nun war das Happy Meal verspeist, das Spielzeug zerspielt, die Alibi-Apfelspalte unauffällig in der Hosentasche versenkt – Mama freut sich ja immer über einen Snack beim Waschen – da fragte der jüngere Sohn seine Mutter: „Mama?! Wo geht’s hier raus?!“

Pause.

Nun muss man erst Verständnis, dann Phantasie für meine kleine Geschichte aufbringen.
Die Mutter war gestresst. Sie hatte ganz alleine zwei mit Bob der Baumeister-Shirts versehene Flummis mit der Aufmerksamkeitsspanne eines an ADHS leidenden Eichhörnchens zu betreuen, in einer für den durchschnittlichen Erwachsenen sensorisch kaum zu ertragenden Umgebung.
Verständnis da? Gut.
Pause Ende.
Der Kleine fragte also:
„Mama?! Wo geht’s hier raus?!“
Und nun sagte die junge Mutter, kaum älter als ich, etwas, das ich sehr bewunderte:
„GARNICHT!“

In Großbuchstaben, ohne Leerzeichen und mit Ausrufezeichen.
Pause.
Jetzt kommt der Teil mit der Phantasie.
Einhörner gallopieren über Schaumgummiwolken auf einen Regenbogen zu, wo ein kleiner Kobold sie mit goldenen Bonbons erwartet…
Phantasie da? Gut.
Pause Ende.
Stellen wir uns das also vor.

„GARNICHT!“
Das Kind wird also diesen McDonalds nie wieder verlassen.
Versetzen wir uns in die Lage des Jungen.
Erst ein wenig fremd ist er dort, beim goldenen M. Doch die Grundlagen sind klar: Essen, Trinken, Klo, Spielzeug. Doch was ist mit all den anderen, schwachen, menschlichen Bedürfnissen? Geborgenheit? Zuneigung? Liebe?
Man sollte meinen, dass es damit bei McDonalds nicht weit her ist.
Doch dann, wie ein Engel in braun-beige Tönen mit unvorteilhaftem Pferdeschwanz, bemerkt die Schichtleiterin die missliche Lage des Jungen. Sie nimmt ihn auf den Arm, sein Bruder und seine Mutter sind schon seit Stunden fort. Sie tröstet ihn und reicht ihm ein weiteres Spielzeug zum zerspielen. Dann kommt die Nachtschicht.
Irgendwie findet keiner die Zeit, den Kleinen zur Polizei zu bringen oder wenigstens dort anzurufen und irgendwie ist er ja auch ganz niedlich, wie er da auf einem der McCafe-Sessel zusammengerollt schläft.
Der neue Schichtleiter ist nett. Er sieht fast ein bisschen wie der Papa von dem Kleinen… Er bringt ihm lesen bei. Wird ja auch langsam Zeit, so mit sechs.

Sein großer Bruder wechselt von der Grundschule aufs Gymnasium.
Der Mann vom McDrive bringt dem Kleinen bei, das Telefon zu bedienen und lehrt ihn auch die Grundlagen des menschlichen Umgangs – erst nach der Sauce zu den Pommes, dann nach dem Getränk fragen!
Seine Eltern lassen sich derweil scheiden – irgendwie konnten sie den unerklärlichen Verlust ihres jüngeren Sohnes nicht verkraften.
Conny von der Tagschicht bringt dem Kleinem währenddessen den Umgang mit Zahlen bei, anhand der Bestellungen werden addieren und multiplizieren gelernt.
Sein Opa stirbt.
Endlich, mit dreizehn Jahren, kommt der gar nicht mehr so Kleine in die Pubertät. Die Putzfrau Renate leistet unschätzbare Dienste bezüglich der sexuellen Aufklärung unter Zuhilfenahme eines Gummihandschuhs und eines Schrubbers.
Sein großer Bruder macht Abitur.
Der mittlerweile als Teenager zu bezeichnende Kleine beginnt eine Beziehung mit dem Mädchen vom McCafe. Es ist die perfekte Jugendliebe.

Sein Bruder gerät unterdessen auf die schiefe Bahn, studiert Versorgungstechnik, wird mit einer Großplantage Hanf im Keller erwischt und landet trotz Erstvergehen direkt im Gefängnis.

Nun muss auch unser Kleiner seinen ersten, wirklichen Rückschlag hinnehmen. Die Beziehung zum McCafe-Mädchen scheitert, die perfekte Jugendliebe ist aus. Er fängt als Trost etwas mit der neuen Auszubildenden zur Fachfrau für Systemgastronomie an.
Sein Vater zahlt die Kaution für seinen großen Bruder, verschuldet sich dafür hoch und landet letztendlich unter einer Brücke.

Unser Kleiner und Vera, die Fachfrau für Systemgastronomie, heiraten. Der Schichtleiter, der ihm damals lesen beibrachte, ist sein Trauzeuge. Es ist eine bewegende Zeremonie, auch wenn sie in den zwei Stunden Putzpause stattfinden muss, die der McDonalds jeden Tag von 3 bis 5 Uhr nachts macht.

Der große Bruder unseres Kleinen setzt sich nach Südamerika ab, niemand weiß so richtig, wie er das gemacht hat – und es wird auch nie jemand herausfinden, denn er bleibt in den peruanischen Anden verschollen. Seine Mutter schluckt aus Trauer über diese Tragödie eine ganze Schachtel Schlaftabletten. Der Notarzt kommt zu spät, sie stirbt.
Zwei Wochen später findet man seinen Vater, erfroren in der Fußgängerzone von Wuppertal.

Vera und unser Kleiner wollen mal etwas ganz verrücktes machen, was vorher noch keiner von ihnen probiert hat – sie machen einen Ausflug! Auf den Ronald McDonald-Spielplatz.
Es gefällt ihnen nicht. Zu laut, zu hell, zu draußen.
Wieder drinnen, schmiegt sich Vera in seinen starken Arm und seufzt zufrieden: „…wir habens schon kuschlig, hm…?“
„GARNICHT!“

(Lena Beule, 2015)

garnicht.txt · Zuletzt geändert: 2024-02-09 07:50 von 127.0.0.1

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