Die züchtige Jungfrau
Wir alle müssen uns mit vollig überzogenen Erwartungen herumschlagen. An uns als Person, aber auch an uns in unserer Rolle in der Gesellschaft. Da gibt es klare Vorgaben, an die man sich zu halten hat. Fangen wir mit den Basics an.
Als allererstes existieren sowieso nur Männer und Frauen – alle Menschen, die nicht in dieses Raster passen, haben jede Anforderung als Mensch nicht erfüllt und sollten sich doch bitteschön endlich mal entscheiden, jawoll.
Männer sollen stark, zärtlich, romantisch, wohlriechend, nicht zu weibisch, gut aussehend, gut verdienend, intelligent, witzig, gut im Bett, selbständig, ordentlich, sauber, toll frisiert, umweltbewusst und ein tolles Elternteil sein.
Frauen sollen all das auch, aber bitte mit rasierten Beinen und ohne über die Menstruation zu jammern.
Uns allen ist klar, dass diese Ansprüche auf einem Jahrhunderte alten Fundament ruhen. Jüngst fiel mir ein wundervolles Werk in die Hände, das diese ultimativen Wahrheiten über das weibliche Wesen zementiert. Geschrieben von – na klar, einem Mann! Der Autor des Werks heißt Dr. med und Phil. Alfred Baur und hat dieses Kleinod 1921 verfasst. Es trägt den erhebenden Titel: „Der züchtigen Jungfrau Leitstern – Eine ernste Belehrung über das Geschlechtsleben“.
Schon das Vorwort gibt eine lockere und entspannte Einleitung in das Thema Weiblichkeit: „Einerseits entfacht das weibliche Geschlecht die Sinneslust beim Manne und befördert dadurch die Unzucht, andernteils trägt das weibliche Geschlecht, einmal unrein geworden, zur Verbreitung der Lustseuchen bei.“
Ganz klar: Sollte mich in naher Zukunft medizinisches Personal nach meinem Befinden fragen, werde ich absolut sicher antworten: „Ach, soweit ganz gut – nur die Verbreitung der Lustseuchen plagt mich!“ Klingt doch deutlich besser als Tripper, Herpes oder Chlamydien. Schauen wir mal, was Herr Dr. med und Phil. Alfred Baur noch so an guten Ratschlägen auf Lager hat.
„Das Phantasieleben der Jugend wird häufig dadurch in falsche Bahnen gelenkt, dass die Aufklärung über geschlechtliche Dinge unterbleibt oder unrichtig erfolgt“.
Oho, ich stimme zu! Ausnahmsweise hat der Mann mal recht – ein Satz, den man von mir auch nicht so oft zu hören bekommt.
Und wenn wir mal ehrlich sind, ist die Aufklärung bezüglich geschlechtlicher Dinge auch nicht wirklich besser geworden. Denn wenn ich mir überlege, was in meiner Schulzeit so Thema in Bio war…
Den Schwänzeltanz der Bienen kann ich bis heute aufführen, zum Thema Schwänze gabs in der Schule ansonsten eher wenig zu hören. Oder, Gott bewahre, zur Vulva! Und die Klitoris war zu meiner Abizeit noch nicht mal in ihrer Gesamtheit entdeckt, deswegen wollte man uns mit Halbwissen auch nicht belasten und ging einfach sehr schnell zur Zellteilung oder den Darwinfinken über.
Das schien auch schon 1921 nicht anders gewesen zu sein, wie der Leitstern der züchtigen Jungfrau beweist. Denn schnell lenkt Herr Dr. med und Phil. Alfred Baur mit einer meiner Lieblingspassagen ab: „Eine gute, saubere Wohnung ist ein Hauptmittel, den Geschlechtsverirrungen vorzubeugen. Sie dürfte der Gesundheit der Nerven und damit einem guten, keuschen Geschlechtsleben eine besondere Förderung gewähren.“
Das ist doch mal eine ganz klare Handlungsanweisung!
Bitte ausschließlich das Tafelsilber wienern, nicht den Willi oder die Vulva!
Höchstens Geschirrhandtücher bügeln, auf keinen Fall die Bettwäsche!
Kragenschmutz bürsten, keinesfalls den Ehepartner!
Das Graubrot buttern, aber bloß nicht den Lachs!
Ordentlich schrubben, aber nur die Hartholzböden!
Wenn dann die Butze endlich schick gemacht ist, ist Zeit für ein wenig Erholung. Was sagt meine Ansammlung an antiken Weisheiten denn zum Thema schlafende Frau? „Die Arme über die Brust gekreuzt, so schläfst du nach getaner Arbeit keusch und rein. Da im Schlaf die Nachbilder zu starker Nerveneinflüsse sich geltend machen, so dürfte sich schon aus Gründen der Erholung im Schlaf der Besuch von Tanzbelustigungen, schlechten Lichtspielen und Theaterstücken verboten sein.“
Da bin ich sehr erleichtert, wir sind sicher. Bis jetzt hat hier noch niemand getanzt, wir haben meines Wissens keine Kinoleinwand in petto und Theater gibt es höchstens in der Pause an der Theke, wenn das Bier alle ist. Die hier anwesenden Frauen werden heute Nacht wohl gut und vor allem keusch ruhen können. Aber nur mit vor der Brust gekreuzten Armen.
Lauter gute Ratschläge, die Frau da zu beherzigen hat, und das schon seit mindestens 1921.
Dass vor einem Jahrhundert die Heteronormativität von Mann und Frau natürlich das einzige Maß der Dinge war, ist ja eh klar.
So möchte ich mit dem Titel des Nachfolgewerks von Dr. Med. und Phil. Alfred Baur enden, den er als Aufforderung an das einzige andere Geschlecht richtet, das ihm bekannt war:
„Jungens, werdet Männer!“
(Lena Beule, 2020)