Die Tafel der 14
Da war ich also, Euer ergebener Erzähler mit seinen Schülern: Paul, Andy, Jacky, 2x Johnny, Phil, Bart, Tom, Matze, Thaddy, Simon und Jott. Meine „treuen 12“ und ich, ihr Lehrer. Eigentlich waren es sogar 13, aber Rufus war erstens neu und wurde zweitens aufgrund seiner Hautfarbe von den anderen nicht komplett angenommen. Sie hatten halt noch einiges zu lernen.
Wir hatten aber zur Zeit ein viel größeres Problem. Die Obrigkeit wollte uns, oder genauer gesagt: mich. Ich hatte in der letzten Zeit ihnen einmal zu viel ans Bein gepisst. Nein, seien wir mal ehrlich: nicht einmal zu viel, sondern viel zu viel. Sie wollten meinen Kopf, und das war nicht zwingend metaphorisch gemeint.
So saßen wir also beisammen und ließen die Hirne heißlaufen, während wir aßen. Meine süße Mary hatte eine nettes Haus mit einer großen Tafel aufgetan und versorgte uns mit allem, was wir so brauchten. Ich hatte sie angewiesen, immer mehr Wasser in den Wein zu tun, je später der Abend wurde, so dass meine Schüler sich nicht so schnell die Birne wegschießen konnten.
„Wie kommen wir nur aus dieser Nummer wieder raus?“ war die Frage, die es zu klären galt. Paul meinte, wir sollten einfach den Ball flach halten, und warten bis die Obrigkeit wieder gechillt ist. Andy fand die Idee auch gut, aber das zählte nicht. Er fand immer alles toll, was sein Bruder so von sich lässt. Aber das würde nicht funktionieren. Sie suchten nach uns, und sie würden nicht so schnell aufgeben. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis sie uns finden würden.
Das Problem war nicht ich. Ich konnte mich aufgrund meiner Fähigkeiten nahezu überall rauslamentieren. Manche nannten sie auch Superkräfte: ich konnte Leute so zutexten, dass sie wie in einem Bann waren. Materie konnte ich ebenso verformen, wie auch in andere Aggregatzustände versetzen. Außerdem hatte ich ein anderes Verhältnis zu Schmerz und Heilung. So hatte mir mal ein Räuber ein Messer in die Handfläche gerammt. Es tat zwar etwas weh, aber ich konnte es auch recht einfach wieder rausziehen, und die Wunde war zwei Tage später wieder komplett verheilt.
Das Problem waren meine Schüler, sie waren normale Sterbliche. Ich war der einzige mit den „natürlichen Überkräften“, wie es ein Kind so schön formuliert hat. Aber es wäre ja nicht das erste mal in der Geschichte, dass jemand für die Taten eines anderen büßen musste. Wie bringe ich sie also hier raus? Bisher war mir immer noch was eingefallen. Aber diesmal…
Es waren nur noch zwei Ideen im Raum: beide hatten mit Flucht zu tun: entweder die komplette Gruppe zusammen, oder in kleinen Gruppen zu 2-3 Personen. So richtig begeistert war ich von der Idee nicht: zu groß war die Gefahr der Entdeckung. Auch wenn die Obrigkeit nicht wusste wie wir aussehen, so wussten es doch einige vom Fussvolk, und könnten die im falschen Moment austicken.
Man stelle sich mal vor: Rufus, Bart und Matze sind zusammen unterwegs, versuchen unerkannt an den Schergen der Obrigkeit vorbeizukommen, und so ein Fan fängt an zu kreischen, weil er die drei erkennt. Selbst wenn die noch wegsprinten können, so würde doch Rufus mit seiner dunklen Tapete auffallen, wie ein Rappe unter Schimmeln. Erfolg sieht anders aus. Definitiv.
So wurde also den Abend über diskutiert, die Tendenz ging zu den kleinen Gruppen, die könnten sich recht effektiv verkleiden. Dann kamen schon die Frage zu den Details: alle am selben Tag, oder doch über einen größeren Zeitraum verteilt? Auch über das „Wohin“ herrschte alles andere als Einigkeit.
Jeder versuchte was beizutragen. Nur Jott war die ganze Zeit recht ruhig gewesen, in Gedanken verloren. „Heh, Bruder, was ist los? Du bist so ruhig.“, holte ich ihn aus seinen Gedanken. „Ich habe eine Idee.“, fing er an. „Sie ist echt gewagt. Aber sie kann funktionieren. Nicht obwohl, sondern gerade eben weil sie so gewagt ist.“ Er hatte meine komplette Aufmerksamkeit: „Ich höre.“
„Okay Alter, Du bist auf dem besten Weg, eine Legende zu werden, wenn Du nicht schon längst eine bist. Das liegt halt an Deinen Superkräften. Aber genau die sollten wir ausnutzen, schließlich haben die Obrigen noch kein rechtes Bild davon, was Du alles drauf hast. Wir geben ihnen, was sie wollen: Dich. Du wirst vor ihren Augen „sterben“, und die Sache ist danach für sie erledigt. Keiner wird mehr nach uns suchen, um an Dich ranzukommen. Und auch Du bist aus der Nummer raus. Du könntest also quasi in Rente gehen, musst halt nur den Ball flach halten. Wir müssen halt nur versuchen, möglichst viel im Voraus zu planen.“
„Hey, das klingt nicht schlecht.“ Ich war überrascht. „Aber Du weißt, ich bin deutlich besser im Improvisieren als im Planen.“ Er schnitt mir das Wort ab. „Nein. Du bist da nicht besser, sondern Du machst das nur lieber. Du kannst auch anders. Denk mal an Deine Rede auf dem Berg.“ „Jaja,“ entgegnete ich, „aber denk mal an die Sache mit der Steinigung. So was kann man nicht planen.“
Jott beschwichtigte. „Ja, dafür hättest Du ja mich. Ich habe die ganze Zeit ein Auge auf Dich und werde Dich in diversen Verkleidungen ansprechen, mal als Bettler am Straßenrand, mal als Wache. Wir planen das durch wie ein Theaterstück, ein Schauspiel. In den einzelnen Szene wirst Du dann noch genug Möglichkeiten zum Improvisieren haben. Aber das große Ganze werden wir vorher durchplanen. Enden wird das Ganze mit Deinem Tod. Dass Kreuzigungen gerade in Mode sind, sollte uns das entgegenkommen. Die Nägel und die Hitze machen Dir ja nicht viel aus.“ „Ja, das könnte klappen. Und wie soll das dann starten? Soll ich mich einfach stellen und im Gegenzug dafür Gnade für Euch einfordern.“ „Hmmm… es würde schon zu Dir passen, aber es könnte sie auch misstrauisch machen. Wir machen das anders: Ich. Werde. Dich. Verraten.“
„Du. Tust. Was?“ grätschte jetzt Paul dazwischen, der gerade vom Pinkeln zurück kam. Alle anderen hatten von unserem Gespräch nicht viel mitbekommen. Jott erklärte jetzt auch ihm die Eckpunkte von seiner Idee. Auch für Paul war der Plan plausibel. „Aber wenn wir uns irgendwann wieder zusammenrotten würden, wird der Scheiß wieder von vorne losgehen. Lasst uns aufhören, solange wir vorne liegen.“ - „Stimmt“, meinte Jott, „ich habe ihm auch schon vorgeschlagen in Rente zu gehen“.
Ich setzte gerade an und wollte den anderen unseren Plan erklären, als Paul mich zurückhielt: „Du weißt, dass die meisten nicht wirklich gute Schauspieler sind? Und mit Geheimnissen können sie auch nicht so gut umgehen. Warum es ihnen jetzt erklären? Besser erst, nachdem die Show gelaufen ist, so haben sie weniger Gelegenheit, das zu versauen. Lassen wir das mal lieber unter uns dreien.“
Ich stimmte zu: „Gut aber dann muss das hier unsere letzte Zusammenkunft sein, unser letztes gemeinsames Mal. … So und jetzt lasst mich nochmal etwas improvisieren.“ Und ich muss sagen, das ist mir auch echt gut gelungen. Diese „das ist mein Leib“ und „das ist mein Blut“ Nummer war eine echt gute Metapher für meinen geplanten Tod.
Tja, so haben wir es dann durchgezogen. Aber leider haben wir doch was übersehen. Jott wurde von Fanatisten aufgehängt, die mich rächen wollten. Deppen! Ich konnte ihn nur noch kurz zurückholen. Noch nie habe ich mich so hilflos gefühlt, als er in meinen Armen starb. Er meinte aber nur, dass ich nicht traurig sein sollte. Sterben müsse er ohnehin, und er hat im Leben mehr erreicht als der Rest meiner Schüler zusammen: er hat aus mir eine Legende gemacht, über die man noch in Jahrzehnten reden wird.
Leider wurde die Nummer größer als er und auch ich je gedacht hätten. Paul war der erste, dem das aufgefallen ist. So ist er als Prediger meiner Ideen aufgetreten, ohne dass ich wirklich was dagegen tun konnte. Ich war ja ganz offiziell tot. Und Paul meinte, das die Sache zu groß geworden ist, um sie wieder zu stoppen. Er will halt versuchen das Ganze etwas zu lenken.
Aber auch sonst bin ich nicht wirklich glücklich, was da in meinem Namen alles so veranstaltet wurde. Bei den Kreuzzügen habe ich mal versucht, das ein paar Leuten zu erklären. Ich bin dann in einem Kerker gelandet, aus dem ich erst wieder rausgekommen bin, nachdem niemand mehr wusste, warum ich da drin war. Das waren die langweiligsten 80 Jahre meines Lebens.
Und wie man im Alter von mehr als 40 Jahren alles faked, was mit der eigenen Geburt zu tun hatte, das erzähle ich Euch dann ein andermal.
(gelesen September 2018 von SvOlli)