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Der Räalitetsverzerrer: das WG-Casting

Ich bin also durch Zufall an einen Räalitetsverzerrer gekommen, ohne genau zu wissen, was das ist. Das Gerät verhält sich auch nicht so, wie ich es erwartet hätte.

Es liegt vor mir auf dem Tisch und hat aus seinem kleinen eingebauten Lautsprecher einen erfolgreichen Systemstart vermeldet. Unschlüssig, was ich tun soll, drücke ich die einzige vorhandene Taste. Die Stimme, die mich immer noch an die aus Hawkings Rollstuhl erinnert, fordert mich auf: „Bitte Schlagwort angeben“. Noch einmal gucke ich dumm. Okay, ich soll jetzt was sagen, aber was?

Wieso weiß ich nicht, aber mir fällt auf einmal schlagartig ein, dass ich ja noch einen Text für unsere Lesebühne „Sonntags-Texter“ machen muss und sage „Wohngemeinschaft“. Und da passiert es … nichts. Wenn dumm gucken einen Grimasse wäre, würde sich vermutlich bald so stehen bleiben.

Ich merke dass ich Durst bekomme und gehe in die Küche. Aber auf dem Weg muss ich falsch abgebogen sein, denn ich erkenne auf einmal meine Wohnung nicht wieder. Ich gehe instinktiv zurück, da ist aber meine Wohnung auch nicht mehr. Ich höre eine Stimme, die mich ruft. Weil ich nicht weiß, was ich sonst machen soll, folge ich ihr in das, was wie ein Wohnzimmer aussieht. „Hallo Klaus!“ sage ich, obwohl ich der Person, die dort auf mich gewartet hat, noch nie begegnet bin. Ich weiß einfach, dass das Klaus ist. Außerdem weiß ich auch, wo ich bin: Berlin, in einer WG, … meiner WG. Von meinem Mitbewohner Klaus erfahre ich, dass gleich die Bewerber auf das dritte, freie WG Zimmer kommen. Auf dem Tisch steht eine Cola-Flasche mit ein paar Gläsern. Ich schenke mir etwas ein und trinke.

Es klingelt. Weil ich noch stehe, gehe ich zur Tür. Ich öffne und stehe einem Känguru gegenüber. Ich blinzle, guck' hinter mich, schau' die Treppe runter, dann die Treppe rauf. Kucke geradeaus. Das Känguru ist immer noch da. „Hallo“ sagt das Känguru. „Du hast Dich in der Tür vertan. Marc-Uwe wohnt eins weiter.“ und deute mit dem Daumen zur Seite. „Wer?“ fragt das Känguru. „Vertrau mir.“ sage ich nur, „außerdem haben wir nur Eier und Salz, aber kein Mehl und die Milch ist mittlerweile schon über das Stadium von Joghurt hinaus.“

Ich schließe die Tür und wie ich zurück gehe, höre wie das Beuteltier bei Marc-Uwe klingelt. Puh, das ist ja gerade nochmal gut gegangen.

Bevor Klaus fragen konnte, wer das war, meinte ich trocken: „hat sich in der Tür geirrt“ und gehe auf das Sofa zu. Bevor ich es erreiche klingelt es wieder. Ich seufze, drehe mich um und gehe wieder zur Tür und drücke den Summer.

Als ich öffne, stehe ich diesmal einem Menschen gegenüber, der sehr verdattert guckt. Ich folge seinem Blick, gucke den Flur entlang und sehe gerade, wie das Känguru sich Salz von Marc-Uwe borgt, und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Wenn Du damit schon Probleme hast, dann wird es in diesem Hausaber echt hart für Dich“, mache einen Schritt zur Seite und eine einladende Geste. Nachdem er drin ist, führe ihn ins Wohnzimmer und biete ihm einen Platz auf dem Sessel gegenüber der Couch an. Noch bevor ich mich zu Klaus auf die Couch setze, stelle ich Klaus und mich vor und frage ihn nach seinen Namen und seinem Studiengang.

Er heißt Kevin-Marcel und ist Jura Student. Ich schiele zur Seite und sehe, wie Klaus sich gerade warm läuft, will noch was sagen, aber da hat er schon Betriebstemperatur erreicht.

„Was? Jura? … Das ist noch nur stumpfes auswendig lernen. Auswendig lernen musste ich aber auch viel, aber während Du Deinen Text nur wissen musst, muss ich ihn auch leben können. Und das auch wenn die Leute schon seit Jahrhunderten tot sind. Wie zum Beispiel François Villon. Kennst Du den?“

Kevin-Marcel reißt die Augen auf und schüttelt mit dem Kopf wie ein Grundschüler, der seine Hausaufgaben vergessen hat. Noch bevor er mit dem Schütteln fertig ist faltet Klaus ihn weiter zusammen. „Das ist ein Dichter aus dem 15. Jahrhundert. Der hat sein Leben lang nicht so viel gearbeitet, dass er sich eine Wohnung oder Haus hätte leisten können. So jemanden würde ich gerne hier beherbergen. Aber so einen wie Dich? Was kannaus Dir noch werden? Wenn Du so weiter machst nur noch ein Berufs-Arschloch. Warte…“, er hastet zum Bücherschrank und greift nach einem Buch, „… hier … ach nee, Du kannst bestimmt kein Französisch, oder?“ Wieder Kopfschütteln. „Putain de Merde!“ Klaus stellt das Buch zurück und greift zu dem Reklam-Heft daneben: ein Paar Werke von Villon im Original und Übersetzung nebeneinander. Er drückt es unserem Gast in die Hand. „Und jetzt verschwinde, bevor ich Dir in die Schnauze schlage.“

„Ich würde diesen Hinweis nicht ignorieren“ sage ich und deute auf ein Glas, in dem ein paar Zähne in einer durchsichtigen Flüssigkeit schwimmen. Genau genommen meine Weißheitszähne, sauber rausoperiert, aber das weiß unser Gast ja nicht.

Er wird blass und sucht sehr schnell das Weite. Ich folge ihm langsam, weil ich davon ausgehe, dass er die Tür nicht schließen wird. Recht gehabt, aber bevor ich sie schließen kann, klingelt es. Ich drücke auf den Summer.

So. Während der nächste Bewerber die Treppe hoch kommt, muss ich jetzt aber doch noch etwas erklären. Ich bin von Klaus als Statist engagiert worden. Er macht das von Zeit zu Zeit: eine Annonce in der Zeitung aufgeben, dass ein WG-Zimmer frei sei, nur um die Bewerber rund zu machen. Damit es mehr nach WG aussieht, mime ich den Mitbewohner.

Auf der Treppe höre ich Kevin-Marcel sagen: „Wenn Du Dir den Tag nicht versauen willst, geh wieder.“ Es gilt anscheinend der Person, die gerade hoch kommt. Aus der Nachbarwohnung dröhnen die ersten Takte von „Smells Like Teen Spirit“, just in dem Moment als ich die nächste Bewerberin sehe. Mir fällt auf, dass es von Kurt echt clever war, die Hit-Single gleich als ersten Track des Albums zu nehmen. Sonst wäre diese Szene um einiges uncooler geworden.

Ich winke sie rein, und gebe Klaus eine Vorlage: „Es ist eine junge Frau.“ Er nimmt sie, wie ich es erwartet hatte: „Sieht sie gut aus?“ Ich beantworte die Frage nicht, soll er doch selbst sehen, und schiebe sie in Richtung Wohnzimmer.

„Oh! Wie hübsch…“, sagt er und leckt sich dabei sehr auffällig über die Lippen. „Klaus,“ entgegne ich, „Du weißt, dass nächste Woche Deine Gerichtsverhandlung wegen der Unterlassungsklage von Penolope ist. Da macht es sich nicht gut, wenn hier schon wieder jemand die Polizei ruft.“ Auch sie kriegt große Augen. „Aber ich bin so wild nach Deinem Erdbeermund!“ zitiert Klaus Villon, der ihm offensichtlich immer noch im Kopf rumschwirrt. Unsere noch namenlose Gästin macht auf dem Absatz kehrt, geht zur Tür, öffnet diese und und schlägt sie mit ordentlich Schwung wieder zu.

Klaus hält mir einen Geldschein hin. „Hier, deine Gage. Das war genug Spaß für heute, außerdem will mir außer Villon gerade nichts mehr einfallen. Lass uns unten noch einen trinken gehen.“ Ich gebe ihn den Schein zurück, „Nö, lass ma'. Andere würden dafür Eintritt zahlen. Du kannst ja gleich die Rechnung übernehmen. Ich finde es viel passender für diese Erfahrung in Alkohol statt in Geld bezahlt zu werden.“Als wir nach draußen gehen, kommt uns noch ein Student entgegen. Er entschuldigt sich, dass er so spät dran ist, aber irgendwie hat sich Berlin sehr stark verändert seitdem er das letzte mal hier war. „Und was studierst Du?“ frage ich so beiläufig wie möglich, immer noch in meiner Rolle. „Eigentlich Kunst & Malerei. Ich habe mich für ein Kunststudium an der Allgemeinen Malerschule der Wiener Kunstakademie beworben, wurde aber nicht genommen. Deshalb will ich jetzt was mit Politik machen.“ Ich sehe ihn mir an:extrem krasser Seitenscheitel und ein Schauzer, der mich an Erdogan erinnert, nur etwas schmaler.

Noch bevor ich schalten kann, was los ist, verpasst Klaus ihm einen Schwinger. Der Bewerber dreht sich einmal um die eigene Achse, bevor er in sich zusammen sackt. Klaus atmet zwei mal tief durch, hebt ihn auf, schüttelt ihn und schnauzt ihn an: „Du Arsch! Was fällt Dir ein, Du bist als Maler um einiges besser. Als Politiker wirst Du der schlechteste des Jahrhunderts. Ach was, das Arschloch des Jahrhunderts wirst Du sein. Streng Dich mehr an.“ Und zu mir gewandt: „Jetzt brauche ich aber wirklich was zu trinken“. Dann lehnt er ihn an die Wand, lässt ihn los und geht. Ich würdige ihn keines weiteren Blickes und folge Klaus.

Als ich durch die Haustür gehe, komme ich wieder in meiner Wohnung an. Ich hätte mir den Geldschein nehmen sollen, und ihn mir signieren lassen. Wäre ein schönes Souvenir gewesen.

wg_casting.txt · Zuletzt geändert: 2024-02-09 07:50 von 127.0.0.1

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